Vampir-Horror-Roman Nr. 250: Der Gefangene der Spiegel

Vampir-Horror-Roman Nr. 250: Der Gefangene der Spiegel


Manchmal sehe ich in den Spiegel und frage mich, ob ich wirklich nur mein Abbild sehe - oder einen unbekannten Teil meines Selbst in einer unbekannten Welt. Uralt ist die Magie der Spiegel. Den Menschen ist das Wissen darum längst versunken, nur kleine Kinder spüren noch etwas davon, wenn sie ungeschickt nach ihrem Abbild tasten. Ich aber weiß, daß die Spiegel nicht das sind, was sie scheinen. Etwas liegt dahinter. Etwas, das uns bedroht, das zu uns hereinstarrt - und uns manchmal hinüberziehen will in jene fremde Welt, deren Pforten uns mit reflektierten Bildern narren. Pforten, von denen die Menschen nichts ahnen. Pforten, die sich vielleicht nur öffnen lassen von Wesen meiner Art. Ich bin nur zur Hälfte ein Mensch. Ein Vampir war mein Vater, schwarzes Dämonenblut das Erbteil meiner Mutter. Ich trage ein Kreuz aus geweihtem Silber und kämpfe gegen das Böse, aber ein Teil meines Selbst gehört der Finsternis. Irgendetwas ließ mich zögern, das große, moderne Apartmenthaus aus Glas und Beton zu betreten. Eine Ahnung? Ich weiß es nicht. Damals hielt ich es für eine Reaktion meiner überreizten Nerven. Und ich war überreizt nach der Überfahrt mit der "Hollandia", nach den Schrecknissen der gespenstischen Eiswelt, die das Schiff fast verschlungen hatte.


von Lafcadio Varennes, erschienen 1978, Titelbild: N. Lutohin