Schattenreich Nr. 4

Schattenreich Nr. 04


"Engel der Finsternis" von Markus Kastenholz
»Es wird Zeit, mein Freund«, flüsterte die Gestalt auf dem Hochhausdach. Ihre Arme hatte sie weit ausgebreitet, fast als wollte sie die hereinbrechende Nacht umarmen. Ihre Stimme-warso leise, kein menschliches Ohr konnte sie vernehmen, selbst wenn ein Mensch direkt neben ihr gestanden hätte - und sie war auch nicht für menschliche Ohren bestimmt. Sie war lediglich ein vager Hauch wie das Wispern des Windes, fragil und zerbrechlich. Und die Gestalt selbst, deren elegantes Antlitz vor erhabener Schönheit zu glänzen schien, war zu schön, um je von einem sterblichen Auge erblickt werden zu dürfen...


"Auf der Spur der Leichenräuber" von Klaus Sollert
Geisterschatten. Ja, genauso hatte sein Großvater die Nebelschwaden genannt, die London im Herbst heimsuchten. Der alte Herr hatte für viele Dinge seine ganz eigene Bezeichnung gehabt. Es war seine Art gewesen, sich von der Masse abzuheben. Tom Stark lächelte, als er an seinen Opa dachte. Er hatte ihn voller Inbrunst geliebt. Wahrscheinlich war jeder Enkel von seinem Großvater begeistert, weil man gegen ihn nicht aufbegehrte so wie gegen den eigenen Vater. Kurz wünschte sich der Reporter, dass der alte Mann noch am Leben wäre. Leider war das ein unerfüllbarer Wunschtraum. Stuart Stark war vor fünf Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Toms Blick folgte noch immer den Nebelschlieren, die vom Fluss her auf ihn zuwallten. Einige von ihnen umschlangen schon seine Beine. Sie wirkten wie gierige Tentakeln eines verborgenen Monstrums, das auf Beute aus war. Ein absurder Gedanke, aber an diesem einsamen Ort schien alles möglich zu sein...


"Bruder Jakob" von Charlotte Engmann
Das Mondlicht spiegelte sich auf dem weißen Verputz des gedrungenen Fachwerkhauses wieder und überzog die schwarzen Balken mit einem dunklen Schimmer. Wie um diese nächtliche Stunde zu erwarten war, fiel kein Licht durch die Fenster. Das Haus ruhte so friedlich wie seine Nachbarn, die das idyllische Seitengässchen von Zons säumten. "Er geht nicht ans Telefon." Lukas klappte das Handy zu und steckte es in die Jackentasche zurück, ehe er noch einmal die Klingel betätigte. Erschreckend laut schrillte sie durch den Flur auf der anderen Seite der Haustür. "Vielleicht ist er ausgegangen. Oder in Urlaub gefahren", versuchte Perdita eine Erklärung zu finden. Zwei Anrufe und mehrfaches Klingeln hätten den Spielzeugmacher längst aus seinem Schlaf reißen müssen.


erschienen am 23.11.2004, Titelbild: Luis Royo

Ein Zusatzhinweis zu dem Cover kommt von Michael Schick:
Das Luis Royo-Bild wurde auch noch auf dem Cover der CD "The Metal Museum - Vol. 5: GOTHIC METAL" aus dem Jahr 2006 unter anderem mit Samples der Metal-Bands "Silentium", "Lacrimas Profundere", "Mandrake", "Macbeth" und "Shadowcast" verwendet:

"The Metal Museum - Vol. 5: GOTHIC METAL"