Ron Kelly Nr. 17: Gefangen im Schlangenturm
Ron Kelly Nr. 17: Gefangen im Schlangenturm


Der Blinde an der belebten Straßenecke hockte im Schneidersitz da. Neben sich hatte er einen alten Hut, der fleckig und zerknautscht war und aussah, als wäre er aus Versehen in den Waschkübel geraten und mitgekocht worden. Ein paar armselige Münzen lagen im Hut, und mancher Passant, der vorbeiging, warf eine dazu. Das leise Klimpern alarmierte den kleinen Mann mit dem runzligen Gesicht und der dunklen Brille, und er wisperte ein artiges: "Muchas gracias!" Der Blinde gehörte zum Straßenbild von Merida, die Menschen kannten ihn.Das war Jose, achtundfünfzig Jahre alt und durch eine seltene Augenkrankheit seit dem dreißigsten Lebensjahr erblindet. Den Tag, an dem er sein Augenlicht verlor, hatte er nie vergessen. Es war der 30. September gewesen, der Tag der Geburt seiner Tochter. Wenn Jose darüber erzählte, schloß er in der Regel seine Ausführungen immer mit dem lapidaren Satz: "So ist nun mal das Leben. Freud und Leid liegen manchmal dicht beisammen."Es war später Nachmittag, die Zeit nach der Siesta, wo das Leben wieder richtig in Gang kam, als ein salopp gekleideter Amerikaner mit forschem Schritt die Straße überquerte und direkt auf den Blinden zusteuerte.Der Tourist trug ein schneeweißes Hemd mit kurzen Ärmeln und offenem Sportkragen. Die Hose in elegantem Grau war aus bestem Stoff und schimmerte wie Seide. Der Amerikaner trug eine Sonnenbrille. Sein Gesicht war gebräunt und markant geschnitten. Die kastanienbraunen Haare begannen an den Schläfen langsam grau zu werden. Pit Storner griff wie beiläufig in seine Tasche und ging vor dem Blinden in die Hocke.


von Dan Shocker, erschienen im Februar 1986, Titelbild: ???