Leseprobe zu Jaqueline Berger Taschenbuch Nr. 1: Die Türen der
Unterwelt
Hinweis:
Diese Leseprobe wurde Kapitel 6 entnommen.
[...] "Ich möchte noch einmal erklären, was wir heute versuchen",
ließ sich Professor Danatu vernehmen. Dabei sprach er jedoch
eher in die kleine Videokamera als zu seinen beiden Kollegen.
Er nahm seine Brille ab und putzte sie. Anschließend trat er an einen
kleinen Tisch, über dem eine blau leuchtende Spitze einer Konstruktion
schwebte, die er gemeinsam mit Danielle Lacomte erfunden hatte. Auf dem Tisch
und somit unter der Spitze lag ein grün schimmernder Stein, einem Ziegel
nicht unähnlich, verziert mit uralten Schriftzeichen. Ein Auge war darauf
abgebildet, aber auch ein Stab sowie ein paar Wellen.
"Dieser Stein hier, ein Schlussstein, wie wir annehmen, versiegelte einst
einen Zugang zu dem, was die Sumerer als Unterwelt verstanden. Meiner Meinung
nach trifft die Einschätzung zu. Es handelt sich hierbei um jenen Zugang,
von dem auch im Gilgamesch-Epos die Rede ist. Denn dort heißt es bereits:
'Ischtar tat zum Reden den Mund auf und sprach zu Anu, ihrem Vater: "Mein
Vater! Schaff mir den Himmelsstier, dass er Gilgamesch töte in seinem
Hause! Schaffst du mir aber den Himmelsstier nicht, so zerschlag ich die
Türen der Unterwelt, zerschmeiß ich die Pfosten, lass die Tore
weit offenstehn, lass ich auferstehn die Toten, dass sie fressen die Lebenden,
der Toten werden mehr sein denn der Lebendigen!' Wir glauben, dass dieser
Schlussstein jene Türen der Unterwelt versiegelte und mittels Magie
geöffnet werden konnte. Wir haben heute nicht mehr das Wissen um die
Kraft einstiger Götter. Aber wir glauben, die Magie mit modernen Mitteln
replizieren zu können. Dies wurde schon einmal versucht, und zwar im
Jahre 1998. Damals wollte eine südamerikanische Niederlassung unserer
Muttergesellschaft den Dämonen Guefucu finden. Das Experiment wurde
auf der Osterinsel durchgeführt, und es ging schrecklich schief. Viele
Menschen verloren damals ihr Leben und noch heute ist nicht geklärt,
was genau schief lief. Hoffen wir also, dass unser Experiment einen
glücklicheren Verlauf nimmt."
Danielle Lacomte starrte ihren Mentor an. Toll. Warum habe ich davon bisher
nichts erfahren? Osterinsel? Sie schüttelte den Gedanken ab, als sie
sein mildes Lächeln sah. "Schön, dann ... Verdunkeln wir
das Licht. Wir sollten Schutzbrillen tragen, falls es zu einer Explosion
kommt. Wir wissen nicht, wie der Stein auf die Energie des von uns modifizierten
Lasers reagiert."
Sie griff in die Tasche ihres Laborkittels und nahm eine Brille hervor. Sie
schützte nicht nur vor Splittern und Funken, sondern auch vor Helligkeit,
da sie aus getöntem Plexiglas bestand. Ein starker Gummi sorgte zudem
dafür, dass sich die Brille eng an das Gesicht schmiegte.
Auch Danatu und Hedge folgten ihrem Beispiel. Der Professor selbst trat an
den Schalter, um den Laser zu betätigen. Damals, als sie es auf der
Osterinsel versuchten, hatten sie einen Magier und sprachen irgendwelche
Gebete. Hier haben wir nur die reine Energie eines Lasers, der nach meinen
Berechnungen jener Energie entsprechen dürfte, die der Gott einst aufwenden
musste, wollte er die Türen der Unterwelt öffnen. "Bereit?"
Er schaute sich um und sah bestätigendes Nicken. Auch Danny Hedge, dessen
Hand über dem Knopf der Notabschaltung schwebte, nickte.
"Tun Sie es, Professor", wisperte Danielle Lacomte. Ihre Augen blitzten.
"Öffnen Sie die Türen der Unterwelt.
"Danatu drückte den Knopf. Summend erwachte der modifizier te Laser
aus dem Stand-by, das blaue Leuchten der Spitze nahm zu, ehe ein heller,
dünner Strahl gebündelten Lichts auf den Stein traf.
Gebannt starrten die Wissenschaftler auf das Artefakt. Sie sahen, dass dieses
für einen Augenblick anzuschwellen schien, ehe seine zuvor grüne
Färbung plötzlich rot wurde. Es funktioniert, dachte Danatu. Er
griff unwillkür lich nach der Hand seiner Assistentin.
Der Stein erzitterte. Schubweise liefen deutlich sichtbare Schwingungen durch
ihn hindurch. "Früher bildete er den Abschluss eines Tors. Doch wir
wissen, dass dahinter nichts lag. Wir glauben darum, dass der Stein selbst
einen Gang oder ein Portal zu schaffen vermag." Danatu flüsterte die
Worte nur. Jeder im Raum wusste, was es mit dem Stein auf sich hatte. Auch
wenn keiner in der Lage war, die Zeichen darauf zu deuten. Zwar erkannten
sie die Symbole, vermochten sie aber nicht in einen sinnvollen Zusammenhang
zu bringen.
Der Laser schoss noch immer Energie auf das Artefakt. Genau dreißig
Sekunden, ehe er sich selbst abschalten würde. Notfalls konnte er jedoch
manuell wieder eingeschaltet werden - etwa, wenn eine halbe Minute nicht
genügte.
Doch noch vor Ablauf der Zeit geschah es.
Der Stein schwoll an, blähte sich förmlich auf, ehe er durchsichtig
wurde. Doch nicht nur das Artefakt verschwand von dem Tisch, sondern auch
die Unterlage. Ein Schlund entstand, der sich rasend schnell ausbreitete.
Der Tisch, der Boden und ein Stuhl waren einfach weg. Es sah aus, als
würden sie sich auflösen.
"Das ..." Danielle Lacomte wich zurück. "Wenn der Schacht noch
größer wird, müssen wir hier raus. Sonst ..."
Die Ausbreitung stoppte. Die Wissenschaftler waren etwas zurückgewichen,
mussten den Raum jedoch nicht verlassen. Vor ihnen, inmitten des Bodens,
klaffte nun ein Trichter von etwa zwei Metern Durchmesser. Die Wände
des Schachts flirrten in verschiedenen Farbschattierungen. Rot und Schwarz,
aber auch Gelb und Violett waren zu sehen. Manchmal flossen die Farben
ineinander, bildeten Wirbel oder Muster, ehe sie wieder auseinandergingen.
"Ist ... Ist das der Schlund in die Unterwelt?", raunte Danny Hedge. Es fiel
ihm schwer, ein Wort über die Lippen zu bringen.
"Wohl möglich." Professor Danatu schien von dem Ergebnis ihres Experiments
beeindruckt. Er trat einen Schritt näher an den Trichter heran. Dessen
Farben änderten sich noch einmal. Sie verblassten, bis lediglich ein
schmutziges Grau übrig blieb. "Ich kann dort unten nichts erkennen.
Mein Blick ver liert sich in der Tiefe. Es ist ... bodenlos."
Auch Danielle Lacomte trat nun an den Rand und schaute hinab. "Es ... riecht
etwas streng", stellte sie fest. "Nach ... Fäulnis und
...Moder."
"Ja", flüsterte Danatu. Seine Gefühle schienen sich zu
überschlagen. Tränen glitzerten in seinen Augen. Ein letzter Triumph,
dachte er. "Das Jenseits riecht nicht gut." Dabei kicherte er ausgelassen.
Er hätte die Welt umarmen können, so zufrieden war er mit sich
und seinem Team. Er griff nach seiner Assistentin, um sie an sich zu
drücken. Doch noch ehe er dazu kam, erklang ein dumpfes Grollen aus
der Tiefe . Der Professor hielt inne und lauschte.
Das Geräusch schwoll an. Es jagte heran wie ein Gewitter, drohend und
polternd. Begleitet wurde der Laut von einem hellen Funkenregen, der aus
der Tiefe empor schoss. Rot und silbern glitzernd, einer Rakete zu Silvester
nicht unähnlich. Die beiden Wissenschaftler sahen ihn kommen. Ihnen
blieb Zeit genug, um ihm auszuweichen, sollte er den Schacht verlassen.
"Was denkst du, was das ist?", wisperte Danatu. Er schaute zu seiner Assistentin,
die jedoch nur mit den Schultern zuckte. Selbst die Tatsache, dass er sie
in seiner Erregung duzte, nahm sie nicht wahr.
Der Funkenregen stieg weiter in die Höhe. Doch noch waren es etliche
Meter, ehe die beiden Wissenschaftler zurückweichen mussten.
"Vielleicht ..."
Weiter kam Danielle Lacomte nicht mehr. Ein blauer Strahl, ähnlich dem
von ihnen eingesetzten Laser, nur um einiges dicker, schoss aus dem Trichter,
traf die beiden Wissenschaftler und durchdrang sie.
Von einer Sekunde auf die andere endete das Leben von Professor Danatu und
Doktor Lacomte in einem letzten, alles verzehrenden Schmerz. Der Tod kam
so schnell, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte. Sie stürzten
auch nicht nach vorne, in den Schacht hinein, sondern brachen zusammen und
blieben an dessen Rand liegen.
"Scheiße", entfuhr es Danny Hedge. Seine Hand hämmerte auf den
Knopf zur Notabschaltung. Ihm war nicht einmal bewusst, wie sinnlos diese
Aktion nun noch war. Er stürzte auf seine Kollegen zu, um ihnen zu helfen.
In diesem Moment hatte er kein Auge für den Schacht oder die Funken,
die just in diesem Moment den Rand des Trichters erreichten.
"Professor?" Die Stimme des jungen Wissenschaftlers überschlug sich.
Er drehte den Kopf des Mannes zur Seite, um in das Gesicht sehen zu können.
Gebrochene Augen schauten ihn an.
"Oh mein Gott", wisperte Danny Hedge. "Oh mein Gottogottogott. Das darf doch
nicht wahr sein. Wie ...?"
Aus dem Augenwinkel bemerkte er die Funken, die hoch in die Luft stoben,
sich dort ausbreiteten und wie bunter Schnee zu Boden rieselten. Einige trafen
Danny. Er spürte die Hitze, die von ihnen ausging. Wie glühende
Asche, dachte er, während die Funken einfach verschwanden. Sie erschienen
ihm nicht allzu bedrohlich, sodass er sich auch um Danielle Lacomte kümmern
konnte. Er drehte sie um, schaute aber erneut in tote Augen. "Nein ..." Es
war lediglich ein Schluchzen, das aus seinem Mund drang. Er setzte sich neben
die beiden Leichen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Erst als
ein leises Schaben erklang, schaute er wieder auf.
"Prof... Professor Danatu!"
Danny Hedge sah, dass sich sein Vorgesetzter bewegte. Die Funken, die zuvor
aus dem Schacht gedrungen waren, lagen wie eine dünne Schicht auf der
Haut des Mannes. Anders als bei Danny verschwanden sie nicht, kaum dass sie
mit ihm in Berührungen kamen. Für einen Moment glitzer ten sie
noch auf Danatus Haut, dann drangen sie in ihn ein.
Der Wissenschaftler blinzelte. Seine Hände und Füße bewegten
sich. Unbeholfen richtete er sich auf. Sein Kopf pendelte von einer Seite
zur anderen.
"Professor, ich helfe Ihnen", rief Danny erleichtert. "Brauchen ... Brauchen
Sie einen Schluck Wasser?" Er reichte seinem Vorgesetzten die Hand,
da dieser versuchte, sich aufzurichten.
Danatu starrte auf die Finger seines Assistenten. Für einen Moment stoppte
er seine Bemühungen, auf die Beine zu kommen. Unbeholfen beugte er sich
etwas vor, öffnete den Mund - und biss Danny Hege in den Daumen. Die
Zähne des Wissenschaftlers bohrten sich in tief in das
Fleisch.
"Fuck", brüllt der Gebissene und versuchte, seine Hand zurückzuziehen.
Doch die Zähne des Professors wirkten wie Stahlklammern, die ihn hielten.
"Lassen Sie mich los. Was ...?"
Auch Danielle Lacomte bewegte sich. Sie richtete sich auf und schaute zu
Danny Hedge. Erst jetzt bemerkte der junge Mann den Blick seiner Kollegen.
In ihnen steckt kein Leben mehr. Sie sind ...
Grauen erfasste ihn. Noch immer steckte sein Daumen in Danatus Mund
[...]
© by G. Arentzen 2007